Die Bomben fallen. Rechts und links von uns versinken sie mit einem klatschenden Laut in der überschwemmten Wiese. Dann erzittert der Boden unter gewaltigen Explosionen. Fontänen von nasser Erde erheben sich und die Brocken regnen wieder herab. Zurück bleiben tiefe Krater.
Meine Mutter läuft, schwer bepackt mit zwei Einkaufstaschen und einem Rucksack die Bahngleise entlang. Der Schweiß rinnt ihr über das Gesicht. Es ist ein heißer Sommer, der Sommer 1943. Ich haste hinter ihr her. Als Achtjähriger habe ich an einer dicken Tasche eine viel zu schwere Last zu tragen. Aber wir können schon den rettenden grauen Beton sehen, den Hochbunker, der dicht am Schienenstrang liegt. Die Industriebahn, deren Strecke in einem Ring um Berlin herumläuft, führt direkt an diesem Bunker vorbei. So bleibt uns nur der Weg auf dem Bahndamm, um in Sicherheit zu kommen.
Wieder fällt eine Serie von Bomben. Noch treffen sie nicht ihr eigentliches Ziel. An der Siedlung, in der wir wohnen, kreuzt sich der Ring der Industriebahn mit der Strecke der Niederbarnimer Eisenbahn, die nach Norden aus der Stadt herausführt. Diese Kreuzung wäre ein lohnendes Ziel, wenn die Amerikaner das Gleisdreieck treffen würden.
Wir nutzen eine Pause zwischen den Wellen der angreifenden Flugzeuge, um kurz stehen zu bleiben. Der wilde Lauf hat uns kaum noch Luft gelassen. Da entdecke ich direkt unter uns den Durchlass eines Grabens, der quer zur Bahn den Damm unterläuft. Es ist eine solide Betonröhre, fast zwei Meter im Durchmesser. Mir kommt eine Idee. "Los, wir kriechen in die Röhre, da sind wir wenigstens vor den Splittern sicher". Meine Mutter schüttelt den Kopf. "Weiter!" Eben haben wir die Bunkertür erreicht, da fallen die Bomben der nächsten Flugzeugstaffel in die Wiesen. Aber uns erreichen sie nicht mehr. Wir sind in Sicherheit.
Als wir nach dem Angriff den Weg wieder zurückgehen, durchqueren wir ein Feld von Kratern, die sich langsam mit Grundwasser füllen. Die Piloten haben schlecht gezielt. Keine einzige Bombe hat die Gleise getroffen. Aber an der Stelle, wo der Wassergraben in die Betonröhre mündet, ist eine Luftmine niedergegangen und dort bildet sich schon ein kleiner See. Hätten wir an dieser Stelle Schutz gesucht - wir wären wie Geschosse aus einem Kanonenrohr in die Wiesen geschleudert worden - zerfetzt. Meine Mutter steht stumm vor dem gewaltigen Loch. Ich habe ein Gefühl, als hätte eine harte Hand nach mir gegriffen, aber doch wieder losgelassen. Und Vater ist Soldat an der Front irgendwo in Frankreich.
Unser Heim steht in einem Meer von Häuschen, Lauben und Bretterbuden im Norden von Berlin. In früheren Zeiten war das Bauernland, aber dann hat man riesige Flächen davon in Pachtparzellen aufgeteilt und an Pächter vergeben. Die bauten sich auf jedem kleinen Grundstück eine Unterkunft. Großspurig nennen sich einzelne Gebiete "Siedlung". Wir wohnen in der Siedlung Wiesenrain in der Sommerstraße 6. Wir zahlen jeden Monat 6 Mark und genau 31 Pfennige Pacht an den Besitzer, einen ehemaligen Bauern. Die Summe entspricht der Größe des Gartens: 631 Quadratmeter. Darauf haben meine Eltern ein winziges Haus gebaut. Es gibt darin eine enge Küche, dahinter ein kleines Wohnzimmer und ein noch kleineres Schlafzimmer. Davor der Luxus: eine Veranda. Dass es in diesem Raum im Winter genau so kalt ist, wie draußen - wen stört das im Sommer? Die Toilette, ein Plumpsklo, liegt im Schuppen neben dem Hühnerstall. Das ist unser ganzer Besitz. Aber im Garten stehen Obstbäume und Beerensträucher. Es gibt Salat, Kohl, Mohrrüben und Radieschen - was man in der Küche so braucht.
Mein liebster Platz in diesem Paradies ist eine Astgabel im Kirschbaum vor dem Haus. Besonders schön ist es da, wenn die Kirschen reif sind. Um diese süßen Früchte beneiden mich alle meine Freunde aus der Siedlung. Wasser gibt es auch genug - aus der Handpumpe im Garten. Die steht zwar ziemlich nahe der Sickergrube, in der unsere "Hinterlassenschaften" versinken, aber das stört niemand. Der Gipfel des Komforts ist eine eigene Pumpe in der Küche mit Verbindung zum Wasserrohr im Boden. Wenn es im Winter sehr kalt wird, muss das Wasser der Gartenpumpe abgelassen werden, damit es nicht einfrieren kann.
Die Pumpe in der Küche ist regelmäßig kaputt. Dann kommt "Onkel Hirselandt", ein Nachbar und repariert sie. Dafür gibt ihm Mutter dann ein paar Flaschen Bier. Ob er in die Pumpe kleine Fehler eingebaut hat, damit sie in schöner Regelmäßigkeit den Geist aufgibt, weiß niemand, aber der "Onkel" fragt auffallend oft nach, ob er mal wieder kommen soll.
Wir haben sogar Strom. Er kommt durch Luftleitungen, die über viele Holzmaste gelegt sind. Das ist in dieser Gegend etwas ganz Neues und viele der Bretterbuden nehmen an der Wohltat gar nicht teil, weil ihre Besitzer es nur zu Stearinkerzen bringen. Bei uns aber brennen abends 15-Watt-Birnen und ab und zu läuft sogar der Volksempfänger. Mehr für mich, als für Mutter, die kaum Musik hört. Ich bin auf "Die Kunterbunt" scharf, eine Kindersendung im Radio. Wenn danach manchmal die Stimme von Goebbels oder vom "Führer" ertönt, dann läuft Mutter mit einem lauten "um Gottes willen" zum Apparat und legt energisch den Ausschalter um.
Bis auf die Bombenangriffe geht es uns eigentlich gut. Mutter arbeitet als erste Verkäuferin bei der Meierei C. Bolle in Wilhelmsruh. Das ist schon ein richtiger Laden, im Gegensatz zu den Bolle-Wagen, die früher in der ganzen Stadt Milch, Butter und Käse zu den Kunden brachten. In diesem Geschäft gibt es zwar alles nur noch auf Lebensmittelmarken, aber jeder Zuckersack wird an regnerischen Tagen von der feuchten Luft ein Pfund schwerer und in jedem Margarinefässchen bleibt am Schluss ein kleiner Rest übrig. So gibt es zum Gemüse und zum Obst aus dem Garten Sachen, die nicht im Boden oder auf Bäumen wachsen. Hunger kennen wir nicht.
Aber die Bomber kommen immer öfter, am Tag und auch in der Nacht. Hinter dem Haus hat mein Vater zwar zu Beginn des Krieges einen lächerlichen Bunker gebaut, aber der ist höchstens als Splitterschutz gut. Ein Loch im Boden, ein paar Balken und Bretter darüber und ein großer Erdhaufen als "Krönung" - das ist alles. Dazu kommt, dass meine Mutter oft bei Fliegeralarm in ihrem Laden arbeitet und dort in einen Luftschutzkeller läuft. Wenn ich nicht in der Schule bin, bleibt mir nur unser Bunkerloch. Bis zum Hochbunker an den Bahngleisen ist es nach dem Voralarm oft schon zu weit.
Eines Tages entschließt sich meine Mutter: ich bringe dich zu unseren Verwandten nach Ostpreußen. "Da kommen keine Bomber hin. Da bist du sicher". Und so kommt es auch. Sie nimmt Urlaub, packt ein paar Sachen ein und wir fahren zum Stettiner Bahnhof. Voller Ehrfurcht stehe ich neben der Lokomotive, die uns in den Osten bringen soll. Die Räder sind viel größer, als ich selbst und die Dampfwolken, die aus den Zylindern zischen, verschlagen mir den Atem. Auf dem Bahnsteig stehen viele Mütter mit Kindern. Die Behörden haben damit begonnen, Schulkinder und Jugendliche in ländliche Gegenden zu evakuieren. Ganze Schulklassen mit ihren Lehrern laufen durch die Bahnhofshalle.
Für uns wird es eine lange Fahrt durch die Nacht. Vor Aufregung kann ich nicht schlafen. Alles ist neu und ungewohnt. Ich höre von Zeit zu Zeit Stationsnamen: Küstrin, Landsberg, Schneidemühl, Dirschau, Marienburg, Elbing, Braunsberg und dann Königsberg in Preußen. So ruft es ein Eisenbahner aus. Wir klettern steif aus dem Wagen. Doch die Fahrt ist noch längst nicht zu Ende. Der neue Tag beginnt in einem zweiten Eisenbahnzug. Kleiner und einfacher, als der komfortable D-Zug, aber irgendwie gemütlicher. Es liegt wohl an den Leuten, die mit uns fahren. Sie sprechen einen breiten, weichen Dialekt, ostpreußisch eben. Jetzt weiß ich, warum Mutter oft so ähnlich sprach. Sie ist ja hier geboren.
Mit der Kleinbahn geht es weiter über Konradswalde und Pronitten nach Labiau. Das ist schon eine lustige Kleinstadt. Man sieht auf den Straßen viele Pferdewagen und die Menschen bewegen sich noch ohne die Hektik, in der in Berlin alles herumläuft. Sie haben Zeit. Mutter und ich allerdings beeilen uns, "zum Dampfer zu kommen", wie sie sagt. Na, das ist eine Überraschung!
Der Dampfer entpuppt sich als ein größeres Motorboot mit dem Namen "Fina". Das ganze Gefährt ist nur etwa 20 Meter lang. Auf dem Deck drängen sich viele Leute. Statt des Meeres gibt es für das Boot nur den Großen Friedrichsgraben, einen künstlichen Wasserlauf, der dicht hinter den Deichen am Kurischen Haff entlangführt. Die Fahrt ist für einen kleinen Berliner ein richtiges Abenteuer. Am Strom entlang ziehen sich weite Felder hin, kleine Waldstücke trennen Dörfer von einzelnen Gehöften. Auf den Wiesen grasen schwarzweiß gemusterte Kühe. So große Rinderherden habe ich mir bis jetzt überhaupt nicht vorstellen können.
Immer wieder legt das Schiffchen an: Haffwerder, Ludendorf und Mövenort heißen die Nester. Plötzlich kommt uns auf dem Kanal ein anderes Boot entgegen, das fast genau so aussieht, wie die "Fina". Es heißt "Lotte" und tutet einen fröhlichen Gruß herüber. Es wird gelästert: "Lotte heißt die Frau vom Schiffsführer. Das Schiffchen heißt so, damit keine Frau auf den Gedanken kommt, dem Kapitän schöne Augen zu machen!" Nach einer Fahrt, die keinen Augenblick langweilig ist, kommt Elchwerder. Wir steigen aus.
Mit einem Pferdewagen werden wir abgeholt. Es geht durch einen dichten Wald nach Franzrode. Ich bin von der langen Reise todmüde. Aber mir gefällt die ungewöhnliche Fahrt hinter den wippenden Rücken des Pferdes, das unseren Wagen zieht. Wir fahren auf einer staubigen Straße ohne Pflaster. Endlich biegen wir in eine Dorfstraße ein. Wir sind da!
Das Holzhaus, in dem mein Onkel, Willy Proplesch, mit seiner Familie wohnt, ist alt und auf den Außenwänden kann man kaum noch Farbe erkennen. Aber zwischen dem Straßengraben und dem Haus liegt hinter einem Staketenzaun ein hübscher Garten mit Blumen und Kohl, Gurken und Kürbissen. Den Hof dahinter, auf dem das Pferd ausgespannt wird, finde ich ziemlich klein. Als Nebengebäude gibt es nur einen Schweinestall und einen Schuppen. Eine Scheune gibt es gar nicht. Die Gehöfte der reichen Rosenthaler Bauern, die ich kenne, sind dreimal so groß. Ich bin enttäuscht.
Aber meine Tante Lina und die Cousinen Sieglinde und Elvira kommen uns mit offenen Armen entgegen. Mein Cousin Willy, ein fast erwachsener Kerl von fast zwei Metern Länge strahlt mich an. Aber er sagt kein Wort. Die Anderen erklären mir, dass er taubstumm ist und nur wenige Worte stammeln kann. Er muss immer mit den Händen zeigen, was er möchte. Aber er scheint ein sehr gutmütiger Mensch zu sein.
Sieglinde ist viel älter als ich und schon fast "erwachsen". Elvira aber ist etwa so alt, wie ich selbst und wir verstehen uns vom ersten Augenblick an wie Geschwister. Onkel Willy ist nicht da. Er arbeitet als Schleusenwärter an einem nahen Strom. Er kommt erst später nach Hause. Jetzt werden wir gleich bewirtet: mit Bratkartoffeln und "Spirgel", ausgelassenem Speck, den die Ostpreußen lieben. Dazu gibt es Fisch. Blei heißt diese Sorte und ich komme aus dem Sortieren der Gräten nicht heraus. Der Blei ist der Fisch mit den meisten Gräten. Nichts für mich. So tadelt die Tante bald: "Der Lorbas mecht aber garnuscht essen."
Sie meint es aber fürsorglich und lässt Sieglinde ein paar Spiegeleier für mich machen, damit ich auch tüchtig zulangen kann. Mir scheint, Ostpreußen ist gar nicht so übel. Mal sehen, was es hier noch Interessantes zu entdecken gibt.
Eine kundige Führerin ist in den nächsten Tagen "Elvirchen", wie sie von allen gerufen wird. Sie macht mit mir Spaziergänge zum "Großen Moosbruch", einem Moorgebiet, das von fleißigen Menschen zum Teil in fruchtbares Ackerland verwandelt wurde. Da schlendern wir durch eine lange Birkenallee, links und rechts von tiefen Wassergräben begleitet. Sie sind typisch für die Landschaft am Moosbruch, denn nur so konnte man einen Teil des Moores trockenlegen. Dann biegen wir ab und es geht zu einem Torfstich. Hier haben kräftige Männer mit scharfen Spaten lauter quadratische Briketts aus dem Boden gestochen und zu riesigen Wällen aufgestapelt. Da trocknen sie nun aus und werden später in Herden und Öfen Wärme schaffen.
Das Moosbruch besteht vor allem aus Himmel. Das Land dehnt sich weit bis zum Horizont. In der dünnen Bodendecke über dem Wasser können keine Baumwurzeln Halt finden. Bald sind wir an einem Teich voller Seerosen. An den flachen Ufern steht niedriges Erlengestrüpp und am Rand der Wasserfläche wachsen Büschel von Binsen und ganze Felder von Schilf. Wo der Boden schon etwas fester ist, blüht Wollgras. Es sieht aus, als wären lauter dicke Schneeflocken auf langen Stängeln hängen geblieben. Vor allem aber wächst hier Torfmoos und Heidekraut.
Zu meinem großen Erstaunen zeigt mir meine eifrige Führerin Fleisch fressende Pflanzen: Sonnentau! Sie weiß auch, dass die "Tautropfen", die man auf den fleischigen Blättern sieht, nichts als Klebstoff sind, an dem die Fliegen hängen bleiben. Die Pflanze verdaut sie dann und was als leere Hülle übrig bleibt, wäscht der nächste Regen ab. "Das ist Porst" sagt Elvira vor einem niedrigen Strauch. "Wir sagen Mottenkraut oder Wanzenkraut dazu". Und richtig - wenn man Porstblätter unter die Nase hält, kommt einem ein unangenehmer Geruch entgegen. Das soll Ungeziefer von den Kleidern vertreiben. Wer's glaubt ...?
Elvirchen geht barfuß und wundert sich, dass ich nicht auf meine Schuhe verzichten will. Die sind schon ganz morastig und es wird nachher viel Mühe machen, sie zu säubern. Aber einen Vorteil scheinen Schuhe doch zu haben. "Wenn du auf eine Kreuzotter trittst und sie will dich beißen, dann sind Schuhe schon gut, weil die Schlange nicht durch das Leder kommt. Das Gift ist nämlich so stark, dass man daran stirbt". Ab jetzt achte ich auf jeden Schritt, den ich im Gelände mache. Aber Kreuzottern sehe ich keine.
Elvirchen erzählt auch von anderen Tieren, die es hier gibt. Aber auf eine Begegnung mit denen muss ich wohl noch warten. Hier sollen Biber ihre Burgen bauen und Fischotter soll es auch geben und ab und zu einen Kranich. Schwarzstörche kann man manchmal durch die Luft segeln sehen und die gewöhnlichen Störche, "de Oadeboar", gibt es hier überall. Auf den Weiden, die sich an manchen Stellen bis an den Horizont erstrecken, finden sie überall Unmengen von Fröschen. Und die vielen Kühe, die da grasen, stören sie überhaupt nicht. Manchmal sieht man einen Storch unter dem Bauch einer Kuh hindurchspazieren.
Auf dem Rückweg geht es wieder durch eine Birkenallee, vorbei an Kartoffel- und Rübenfeldern. Dann kommen Wiesen mit hohem Gras. Da stehen große Herden von schwarzbunten Rindern. Sie strahlen eine Ruhe aus, die mir als Berliner "Bombenflüchtling" gut tut. Langsam beginnt mir das Ostpreußische Land zu gefallen. Ganz besonders gerne bin ich an der Fähre, die über den Timberfluss nach Franzrode führt. Da darf ich immer mitfahren - hinüber und herüber, so oft ein Wagen kommt. Und neben der Fähre liegt einer der schweren Kähne, mit denen hier alles auf dem Wasser transportiert wird. Er ist zwar mit einer Kette am Ufer festgemacht, aber ich kann mich hineinsetzen und ein wenig schaukeln. Da komme ich mir fast wie ein Kapitän vor oder wie ein Pirat auf den sieben Weltmeeren.
Eines Tages bin ich bei Onkel Willy an seiner Schleuse an der Wiepe. Meinem Onkel fehlt am rechten Arm die Hand. Als Schreinergeselle hat er sie bei einem Unfall an einer Maschine verloren. Aber er ist deshalb kein Griesgram. Er ist lustig und guter Dinge. Mich nennt er immer "Lachodder", das ist einer, der zu gar nichts taugt. Als Spitzname aber darf man sich den Namen gefallen lassen. Der Onkel zeigt mir gleich voller Stolz, dass er trotz seiner Behinderung ohne Probleme die Schleuse öffnen kann: an einem großen Kreuzhebel, der aus dem Boden ragt, stemmt er sich mit seinem ganzen Körper gegen die Flügel aus Eisen. Und siehe da: ein Teil der Brücke, die über den Fluss führt, bewegt sich seitwärts und gibt nach kurzer Zeit eine Durchfahrt frei. Heute kommt leider kein Schiff, sagt er, aber du wirst noch genug hier vorbeifahren sehen. Dann schließt er die Durchfahrt wieder, weil ein Bauer mit seinem Pferdewagen über die Brücke hinüber zum anderen Ufer fahren will.
An der Schleuse steht ein Häuschen, in dem der Schleusenwärter bei schlechtem Wetter auf Schiffe warten kann. Mein Onkel hat sich darin eine kleine Werkstatt eingerichtet. Er ist trotz seiner Behinderung sehr geschickt beim Reparieren von allerlei Geräten. Was mich geradezu aus den Schuhen wirft: er zeigt mir eine Taschenuhr, die nicht mehr funktionierte und deren kleines Räderwerk er ganz behutsam bearbeitet hat, bis sie wieder ging. Wir ahnen nicht, dass ihm seine Behinderung später das Leben retten wird, weil er nicht als Soldat in den Krieg ziehen muss.
Die Schleuse ist eine richtige Falle für die Fische, die den Fluss hinauf und hinabziehen. Da gibt es Plötze und Barsche, Aale und Schleie, Bleie und Hechte. An einem Wehr sammeln sie sich zu Tausenden. Darum holt Onkel Willy einen Kescher, ein rundes Netz wie ein Korb an einem langen Stiel. Er taucht ihn ins Wasser, zieht ihn von einer Seite auf die andere und - schon sind zwei Fische darin. Der kleine Berliner kommt aus dem Staunen nicht heraus. Allerdings ist mir der Gedanke an ein neues Fischgericht am Abend nicht sehr sympathisch. Deshalb bitte ich ihn, die Fische wieder ins Wasser zu werfen und bin froh, als sie davonschwimmen. Doch dann zeigt mir mein Onkel noch einen Schuppen, aus dem ein stinkender Qualm kommt. Da räuchert er Aale. Das Feuer wird mit Tannenzapfen genährt. "Das gibt Aroma", sagt Onkel Willy. Ein starker Petroleumgeruch kommt von einem Kahn aus dicken Holzbohlen, der mit dem Kiel nach oben auf dem Ufer liegt. Der erhält gerade einen neuen schwarzen Boden aus Teer.
Nun wird es Zeit, mein neues "zu Hause" kennen zu lernen, denn ich soll in einem anderen Dorf bei Pflegeeltern wohnen, direkt neben dem großen Hof von Onkel Adolf und Tante Anna, Mutters Schwester. Wieder geht es mit Pferd und Wagen über das flache Land. Unser Ziel heißt "Wiepenbruch". Auf meinen Onkel, Adolf Samel, bin ich besonders neugierig, denn man erzählt mir, dass er der größte Mensch ist, den es hier in der Gegend gibt, ein Riese von Gestalt, mit Bärenkräften, aber einem sanften Gemüt. Er hat einen großen Hof, dessen Äußeres zwar keinen Reichtum verrät, zu dem aber einige Ländereien gehören. Auf diesem Hof kommen wir nach einer Fahrt durch lange Birkenalleen an.
Der Empfang ist genau so herzlich, wie in Franzrode. Tante Anna drückt mich an ihre gewaltige Brust aber Onkel Adolf bewundere ich mit Vorsicht. Doch als er mir die Hand gibt, stelle ich erleichtert fest, dass er sie mir trotz offensichtlicher Riesenkräfte nicht zerdrückt. Dann kommt mir noch eine Cousine entgegen, die Hanni. Sie ist noch etwas wortkarg, aber da wir etwa gleich alt sind, werden wir uns schon verstehen.
Zur Begrüßung gibt es erst einmal ein einfaches Essen, Fleisch mit einem Berg Kartoffeln. Dann kommt zu meinem Entsetzen fetter Aal mit Streuselkuchen auf den Tisch. Ich entscheide mich nur für den Kuchen und ein Glas Milch. Schließlich wird Mutter ausgefragt und damit es sich leichter erzählen lässt, werden einige Flaschen hereingebracht. Vor allem Korn und Kartoffelschnaps, sicher Selbstgebrannter. Auf ein Schnapsglas legen sie zu meiner Verwunderung eine Scheibe grobe Leberwurst. Das nennen sie "Pillkaller". Die Leberwurst nehmen sie in den Mund, trinken den Schnaps dazu, kauen alles gut durch und - weg ist das nahrhafte Getränk. Dazu meint Onkel Adolf: "Es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd, in Pillkallen ist es umgekehrt!" Anschließend kommt noch ein "Witter mit Punkt" dazu. Das ist ein Korn, der mit einem Schuss Himbeersirup "gekrönt" wird. Damit wir Kinder nicht neidisch werden, bekommen wir ebenfalls Himbeersirup, aber mit viel Wasser verdünnt. Ist auch besser so. Die Frauen aber trinken "Meschkinnes". Das ist Bärenfang, ein Likör aus Bienenhonig. Was für erwachsene Leckermäuler.
Hannchen führt mich zu meinem Großvater, den ich noch nie bewusst gesehen habe. Er lebt in einem kleinen Zimmer und kann sich nicht mehr richtig bewegen. Er ist 85 Jahre alt und schon etwas verwirrt. Es dauert eine Weile, bis er begreift, wer da vor ihm steht und mich fragt: "Also Du bist Martha's?" Mutter hatte mir schon vor langer Zeit erzählt, dass Großvater ein geborener Litauer ist. Er hieß früher "Mikas Praplies" und man nannte ihn "Miks". Aber er ist mit seinem Bruder von Litauen nach Deutschland ausgewandert und wollte nicht, dass jeder schon an seinem Namen merkt, dass er geborener Litauer ist. So ließ er sich in "Michael Proplesch" umschreiben und dabei blieb es.
Großvater schaut mich lange an, ohne ein Wort zu sagen und hat wohl so seine eigenen Gedanken über den Sohn seiner Tochter, die jetzt im großen Berlin lebt. Dann beschäftigt er sich schließlich - mit einem Nachttopf und öffnet ungeniert seinen Hosenschlitz. Mutter hatte mir schon erklärt, dass Großvater zum Pinkeln einen dünnen Schlauch in die Harnröhre fädeln muss. Und das ziemlich häufig. Er kann dabei keine Rücksicht auf Leute nehmen, die bei ihm sind, weil ihn die Behinderung sehr quält. So war ich zum Glück auf das merkwürdige Ereignis vorbereitet. Großvater müsste dringend operiert werden. Aber das nächste Krankenhaus ist weit. Und wegen eines alten Mannes macht man sich hier nicht viel Sorgen. Großvater tut mir unendlich leid. Aber ich bin noch zu klein, um etwas für ihn tun zu können.
Wir Kinder laufen hinaus auf den Hof. Hanni führt mich voller Stolz herum. Erst in den Kuhstall, dann zu ihrem besonderen Freund, dem gutmütigen Pferdchen. Sie zeigt mir die Hühnerschar und die Gänse, schließlich den Schweinestall und das Taubenhaus. Auf dem Hof steht ein Ziehbrunnen. In einer Gabel liegt eine lange Stange, daran hängt ein Blecheimer. Auf dem anderen Ende der Stange ist ein Gegengewicht festgemacht. So kann man mit wenig Mühe Wasser schöpfen, das dann mit der "Pede", einem Holzträger auf den Schultern, weggetragen wird. Das Wasser ist bräunlich, aber sauber. Es schmeckt etwas fade, aber die Frauen schätzen es, weil beim Waschen mit wenig Seifenpulver ganze Schaumberge entstehen.
In einem lustigen Häuschen mit einem eigenen winzigen Fenster über dem "Eingang" liegt Nero, der Kettenhund. Um ihm zu zeigen, dass ich vertrauenswürdig bin und es gut mit ihm meine, darf ich ihm ein Stück Wurst bringen. Nachdem er den Leckerbissen mit einem Haps verschlungen hat, leckt er mir die Hand. Vor ihm brauche ich mich in Zukunft nicht zu fürchten. An großen Türmen aus Brennholz vorbei führt mich Hanni zuletzt in die riesige Scheune, die halb voller Heu liegt. Da bewerfen wir uns eine Weile mit Heu und lachen uns gegenseitig aus, weil wir selbst wie Heubündel aussehen. Die Freundschaft ist geschlossen.
Am gleichen Abend werde ich im Nachbarhof Onkel August und "Tante Mieze" vorgestellt. Das sind "Barutzkis", meine Pflegeeltern. Die "Tante" erweist sich als klein und rund und sehr lieb. Sie zeigt mir eine Kammer, in der mein Bett steht. Das Bettzeug kommt mir wie ein ganzer Berg vor, so groß sind das Deckbett und die Kissen. "Ja", meint Tante Mieze, "weißt', wir haben jenuch Jänse hier. Da jibt immer massenweis Daunen. Frieren musst bei uns nich!"
Mein Pflegevater meint es auch gut mit mir. Er bringt mir ein Buch: "wennst lesen willst". Es ist ein "Realienbuch", eigentlich etwas sehr Interessantes. Aber das Buch scheint schon -zig Jahre hier gelegen zu haben. Die neuesten Errungenschaften, die darin beschrieben sind, gab es schon in der Jugend meines Vaters. Trotzdem bleibt es auf meinem Nachttisch und begleitet mich in Zukunft in den Schlaf.
Nachdem Mutter wieder nach Berlin gefahren ist, weil ihr Urlaub zu Ende geht, muss auch ich wieder die Schule besuchen. Aber wie sieht die aus? Ein Häuschen mit einem einzigen Klassenzimmer. Da sitzen größere und kleinere Kinder zusammen neben einem Kanonenofen, einem großen Glasschrank mit Büchern und ausgestopften Tieren. In der Ecke lehnen ein paar zusammengerollte Wandkarten. An der Wand ein großes Bild von Hindenburg, dem "Retter Ostpreußens" im ersten Weltkrieg. Und - natürlich - ein Bild vom "Führer". Alle Mitschüler sind neugierig auf den "Berliner". Doch wenn ich von den Bombenangriffen und den Schwärmen der Flugzeuge erzähle, glaubt mir kein Mensch. Es wird lange dauern, bis sie wissen, dass ich kein Angeber bin.
Der Lehrer ist alt und schon tatterig. Aber er hilft mir, die neue Umgebung besser zu verstehen. Zuerst lässt er alle Kinder ein Lied für mich singen, das auch meine Mutter oft gesungen hat: Ännchen von Tharau. Das kennt jeder Ostpreuße und ich kann sogar ein wenig mitsingen. Dann lerne ich, dass die vielen Orte hier herum alle erst seit wenigen Jahren so heißen, wie jetzt. Franzrode hieß zum Beispiel Laukwargen, Elchwerder hieß Nemonin und Wiepenbruch hieß Neu-Heidlauken. Die Namen müssen jetzt deutsch klingen, "weil der Führer die alten Namen nicht leiden konnte". Wir lachen über so komische Namen wie "Liegetrocken" und "Kuckerneese", "Willpischken", "Muskaken" und "Budschißken". Am komischsten aber ist "Aschlacken".
Der Unterricht ist merkwürdig. Jede Gruppe der etwa gleichaltrigen Kinder bekommt andere Aufgaben und der Lehrer schlendert von Schüler zu Schüler, bis alle fertig sind. Die Kleineren dürfen dann gehen und die größeren müssen anschließend noch schwierigere Aufgaben lösen. Es fällt mir in dem Gewusel schwer, mich zu konzentrieren, aber ich merke, dass ich in meiner Altersklasse schon viel weiter bin, als die Anderen. Das ist kein Wunder, denn hier auf dem Lande muss man schon als Kind helfen, wenn die Ernte eingebracht werden soll. Da kommen die Schulstunden erst an zweiter Stelle.
Als unser Lehrer erfährt, dass ich gerne Bücher lese, erlaubt er mir sehr freundlich, dass ich mir aus dem Bücherschrank etwas ausleihen darf, wenn ich möchte. Aber vorläufig bringt mir jeder Tag so viel Neues, dass ich gar nicht schmökern will.
Eines Tages legt ein großer Kahn an der Fähre an, die über die Laukne führt, einen Fluss bei Schenkendorf. Ein Fischer vom Kurischen Haff bringt Unmengen Stinte ins Dorf, kleine Fische, mit denen meist die Schweine gefüttert werden. Auch die Katzen lieben Stinte und - die Kinder ebenfalls. Das macht mir Hanni klar, als sie mit einer abgebettelten Portion Stinte die häusliche Küche ansteuert und das Kleinzeug mit Fett in eine Pfanne schlägt. Die Kinder hier kennen kaum etwas Süßes, Bonbons oder Schokolade sind seltene Genüsse, also muss man sich für handfestere Sachen entscheiden. Und obwohl ich ja eigentlich keine Fische mag, lerne ich die kleinen Leckerbissen richtig "aufzumachen" und ohne die Mittelgräte und den Kopf zu genießen.
Auf der Dorfstraße fragen mich alle Leute, die mich sehen, ungeniert "Wem's bist?" Wie man es mir gesagt hat, muss ich dann antworten "Proplesche's Martha's". Dann kommt nur ein kurzes "So!" und man ist zufrieden. Wie ich mit meinem vollen Namen heiße, will gar keiner wissen. Sehr gesprächig ist man hier nicht. Wenn ich etwas wissen möchte, muss ich schon Tante Mieze ausfragen. Eines Abends entschlüpft mir der Satz "Na, reich ist Ostpreußen aber nicht." Da bekomme ich etwas zu hören. Tante Mieze spricht vom Tilsiter Käse und von den vielen Pilzen, die man im Wald nur einsammeln muss und natürlich von den herrlichen Fischen in den Flüssen. Vor allem aber lobt sie die wunderbar mehligen Kartoffeln, die hier überall wachsen, Sie holt ein Bild von Friedrich dem Großen hervor, der "uns mit die Kartoffeln jesegnet hat." Gleich kommt sie auch auf die preußische Königin Luise zu sprechen, die man hier überall sehr verehrt, weil sie "dem Napoleon damals de Meinung jesagt hat". "Neij", meint sie, "Ostpreußen ist kein armes Land nich." Und dann darf ich ihren Schatz sehen, eine wunderbare Kette aus Bernstein. "Das is unser Jold", sagt Tante Mieze, "und davon jibt noch viel mehr!" Da schäme ich mich für meine vorlaute Bemerkung.
Auf Samels Hof steht ein merkwürdiger Pferdewagen. Er hat große breite Holzrollen als Räder und ich konnte mir lange keinen Reim darauf machen. Aber eines Tages wird der "Gippert", so heißt das Pferd, vor diesen Wagen gespannt und es geht auf den Großen Moosbruch zum Torfholen. Vorher aber bekommt das Ross noch hölzerne Pantoffeln an die Hufe geschnallt, breite platte Latschen. Die sollen verhindern, dass das Pferd im sumpfigen Moor einbricht. Jetzt wird mir auch klar, warum der Wagen keine normalen Räder hat. Mit diesem Gefährt kann man auf die Felder fahren, deren Untergrund sich unter den Füßen auf und nieder bewegt, wenn man darauf herumspringt.
Zum Torfholen hat Onkel Adolf einen Polen geschickt, der auf dem Hof Dienst tut. Er ist Kriegsgefangener und arbeitet hier, weil Hermann, Adolfs Sohn, Soldat werden musste. Der Pole ist ein gutmütiger Kerl und gegen alle Vorschriften darf er mit der Familie am Mittagstisch essen, weil er auch ein fleißiger Helfer ist. Nur abends geht er zum Schlafen in ein Gefangenenlager.
Der polnische Knecht läuft barfuß herum, aber das ist nichts Besonderes. Schuhwerk aus Leder ist hier ein Luxus. Man trägt bestenfalls "Klumpen". Das sind Holzschuhe, die ein alter Mann im Dorf schnitzt - große für die Großen und kleine für die Kleinen. Im Winter wird dann noch Heu hineingestopft wegen der Kälte. Auch ich bekomme eines Tages feierlich ein Paar Klumpen überreicht. Darin zu laufen fällt mir zunächst nicht leicht, weil man sich schnell die Oberkante des Fußes wund scheuert. Doch bald bildet sich an dieser Stelle eine dickere Haut und es macht Spaß, mit den hölzernen Schuhen herumzuklappern.
Trockener Torf ist leicht und wir Kinder helfen gerne, den Wagen zu beladen. Auf dem Rückweg kutschiert die kleine Hanni ganz sicher unsere Last die Feldwege entlang. Aber ich habe den Verdacht, dass das Pferd genau so gut heimfinden würde, wenn man es ganz allein laufen ließe.
Ein halbes Jahr später ist Mutter wieder da - für wenige Tage zwar nur, aber meine Freude ist groß. Sie besucht mit mir eine ganze Reihe von Leuten, die meisten in Timber, dem Dorf, in dem sie geboren ist. Alle sagen einfach "Martha" zu ihr und bestaunen ihren Sohn. Die vielen Gesichter und Namen kann ich gar nicht behalten, aber überall drückt man mir etwas Nahrhaftes in die Hand. Das ist so Brauch in Ostpreußen. "Iß, dass was wirst!" heißt es.
Es kommt ein schöner Nachmittag, an dem wir beide von Franzrode zu Samels nach Wiepenbruch laufen wollen. Der Weg führt zunächst zur Schleuse, dann auf einem Damm an der Wiepe entlang, weil das die kürzeste Strecke ist. Man kommt allerdings auf der anderen Seite des Flusses auf der Rückseite des Gehöftes an und muss dann rufen, bis man mit einem Kahn herübergeholt wird. So laufen wir neben dem Fluss am Waldrand munter drauflos. Am Ufer sitzt ein "Lorbass" und angelt. Neugierig schaut er uns an. Mutter fragt ihn: "Na, hast' schon zu Mittag gegessen?" Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: "Kartoffel, Fleisch und Kirbis!"
Wir wandern weiter, bis der Tag zur Neige geht und es langsam dunkel wird. Als wir an der richtigen Stelle sind, sehen wir von fern schon auf Samels Hof jemand mit einer Laterne zwischen den Ställen hin und her laufen. Laut rufen wir hinüber und es sieht so aus, als bewegte sich auch schon etwas am Wiesenufer auf der anderen Seite des Stromes. So warten wir, bis es tatsächlich unterhalb des Dammes, auf dem wir stehen, kräftig plätschert.
Doch statt eines Fährmannes, der uns abholen kommt, bricht direkt vor uns aus dem Erlengebüsch - ein Elch. Mit seinem massigen Vorderteil steigt er auf die Dammkrone und sieht uns aus wenigen Metern Entfernung an. Wie eine bedrohliche Waffe ragt über seinem Kopf die riesige Elchschaufel in den Abendhimmel, schön, aber gefährlich. Mutter und besonders mir ist nicht sehr wohl bei diesem Anblick. "Elche sind immer sehr neugierig. Er hat unser Rufen gehört und ist über den Strom geschwommen", flüstert mir meine Mutter zu, "bleib ganz still stehen!" Das tun wir auch, aber der Elch macht keine Anstalten, hinüber in den Wald zu stapfen. Ganz ruhig und friedlich steht er da und guckt uns nur unentwegt an.
Nach endlosen Minuten des gegenseitigen Respekts fasst sich meine Mutter ein Herz und geht langsam auf den Elch zu. Es ist schon fast dunkel und da uns offensichtlich drüben im Hof niemand gehört hat, müssen wir auf dem Damm weiter zu einer Brücke laufen, um ins Dorf zu kommen. Der Elch geht einen Schritt zurück und dann wieder einen Schritt auf uns zu. Da gehen wir beide mehrere Schritte zurück. Was tun?
Es kommt uns wie eine Ewigkeit vor, bis sich der Elch mit seinen gewaltigen Schaufeln doch tatsächlich ganz langsam umdreht und dann schräg nach unten auf den Waldrand zuläuft. Leider verschwindet er nicht zwischen den Bäumen, sondern stakst gemächlich neben dem Damm her. Wir folgen ihm in gebührendem Abstand, aber wir kommen so der Brücke näher. Kurz bevor der Damm und die Straße zur Brücke sich treffen, bricht der Elch mit einem Respekt einflößenden Schnaufen seitlich durch das Unterholz und ist auch schon im Wald verschwunden. Bei uns beiden: große Erleichterung. Bald sind wir in Samels Hof und erzählen den Anderen unser Erlebnis. "Neij, die tun keinem nuscht", meint Onkel Adolf nur und wundert sich, dass wir so aufgeregt sind. Ostpreußen haben offenbar gute Nerven!
Von Tante Mieze kann man das nicht sagen. Als eines Abends ein Gewitter mit Donner und Blitz ums Haus tobt, holt sie die Bibel aus dem Schrank und fängt laut zu beten an. Mich holt sie vom Fenster weg. "Das zieht den Blitz an". Als sich das Gewitter verzogen hat, zündet sie eine Kerze an und betet noch einmal. Auch wenn in der Nacht ein Käuzchen "schuhu" schreit, hat Tante Mieze Angst und behauptet am nächsten Morgen "wirst sehen - es stirbt einer."
Tante Mieze erschrickt leicht. Es braucht nur jemand unverhofft um die Ecke zu biegen, dann hört man von ihr einen kleinen Schrei. Und danach kommt unweigerlich: "Tü, tü, tü", wobei sie wirklich auf den Boden spuckt. Manchmal juckt ihr die linke Hand. Dann strahlt sie: "jibt bald Jeld für mich." Juckt ihr die Rechte ist sie sauer: "werd was bezahlen missen." Wenn sie von Pferden träumt, ist sie sicher, dass es Sturm gibt. Träumt sie von Regen, dann gibt es bald Tränen. Bei ihr darf man auch kein Salz verschütten. "Das bringt Ärger", behauptet sie. Das stimmt. Wenn ich am Tisch Salz verschütte, bekomme ich sofort Ärger - mit ihr!
Die Wochen gehen dahin und die Monate. Es kommt der Winter 1944. Von Flugzeugen hat man in Ostpreußen noch nichts gesehen, jedenfalls nicht auf dem Großen Moosbruch. Aber aus dem kleinen Radio, einem Volksempfänger, der mit Batteriestrom läuft, hört man, dass die russische Armee immer näher an die Deutsche Grenze herankommt. Die Männer reden nur ganz vorsichtig über die Möglichkeit, rechtzeitig vor der Front nach Westen zu flüchten - mit Pferd und Wagen. Doch packen darf keiner. Die "Goldfasane", wie man die aufgeputzten Parteibonzen nennt, haben jede Vorbereitung für eine Flucht verboten. Wer diese Anordnung missachtet, wird eingesperrt. So gibt es nur ganz heimlich hier und da Vorkehrungen für das Unvermeidliche. Denn an stillen Abenden hört man bereits ein fernes Grummeln. Die Älteren wissen: das ist Geschützdonner. "Wenn Frost kommt, kommt der Ruß'" sagen die Erfahrenen. Sie wissen, dass der Weg über das Moosbruch mit schweren Fahrzeugen unmöglich ist. Aber auf gefrorenen Böden können auch Panzer vorwärts kommen. Und dann ist der Frost da! Doch bevor es zu spät ist, kommt auch meine Mutter. Man hat sie telegrafisch informiert, dass es Großvater sehr schlecht geht. Das war dann auch der Grund, dass sie überhaupt eine Fahrkarte bekommen konnte. Aber das Telegramm ist leider wahr.
Großvater liegt im Sterben. Man hatte ihm schon vor einem halben Jahr gesagt, dass man ihn in ein Sanatorium in der Mark Brandenburg bringen würde, aber damals hatte er nur gebrummt: "Wenn der Ruß' kommt, bin ich nicht mehr!" Als die Nachrichten vom Rückzug der deutschen Armee immer bedrohlicher klangen, hörte Großvater auf, Nahrung zu sich zu nehmen. Nur das Trinken hielt ihn noch am Leben. Und als Mutter da war, starb er. Jetzt muss in aller Eile noch eine Beerdigung stattfinden. Also hacken einige Männer auf dem Friedhof ein Grab in den gefrorenen Boden. Am nächsten Tag: klirrende Kälte. Es friert Stein und Bein. Nur die Erwachsenen begleiten Großvater auf seinem letzten Weg. Die Kinder müssen zu Hause bleiben. Und die größeren von uns meinen: "Gut, dass der Opa jetzt gestorben ist. Wir hätten ihn so schwer krank doch gar nicht mit auf die Flucht nehmen können."
Am nächsten Tag ist meine Zeit in Ostpreußen schlagartig zu Ende. Man bringt Mutter und mich dick vermummt in Decken und Pelzen mit Pferd und Wagen nach Labiau zur Kleinbahn. Der Große Friedrichsgraben ist schon zugefroren. Der Dampfer fährt nicht mehr. Von Labiau geht es in einem kalten Zugabteil nach Königsberg und in einer nächtlichen Fahrt mit dem völlig überfüllten D-Zug zurück nach Berlin. Die täglichen Fliegeralarme haben mich wieder, doch jetzt ist klar, dass die Front uns bald auch in Deutschlands Hauptstadt erreichen wird. Meine Angst vor dem Unbekannten, das die Großen immer wieder besprechen, nimmt von Tag zu Tag zu. Und die rote Armee marschiert unaufhaltsam nach Westen.
Seitenanfang | Karl-Heinz Darweger |
Zur Startseite von Ahnen- und Familienforschung |